„Abenteuer Pilzesammeln“

aufgeschrieben von Lothar Schirmer| geboren 1950 | Kriminalrat a.D.

Dort wo im Wald früher das Sprengstoffwerk war, befindet sich bis heute ein riesiger Truppenübungsplatz. Bei aller Planung der Übungen mit Panzern, Kanonen und Raketen kam es dennoch immer wieder vor, dass Granaten außerhalb der Schießbahnen irgendwo im Wald explodierten. Diese Erfahrung blieb auch vielen Klietzern nicht erspart. Das Übungsgebiet besaß den Status eines militärischen Sperrgebietes und war entsprechend gekennzeichnet. Wie international üblich, verwiesen große Schilder am Waldrand darauf, dass das Betreten bei Strafe verboten sei und dass Lebensgefahr bestünde. Die Schilder bewirkten natürlich nichts. Da sie immer dort standen, nahm man sie schon längst nicht mehr wahr. Oder ignorierte sie einfach. Besonders im Spätsommer und im Herbst, wenn in dem riesigen Waldgebiet Pilze ohne Ende wuchsen, tat sich hier ein Mekka für Pilzsammler auf. Und derer gab es in Klietz und Umgebung genug.

Ganze Pfifferlingsfelder breiteten sich im sandigen Boden der mittelgroßen Kiefernschonungen aus und dort, wo die Kiefern ausgewachsen in den Himmel ragten, wuchsen Stein- und Butterpilze und Maronen. Mit Birken bestandene Waldstriche boten ideale Wachstumsbedingungen für Birkenpilze. Hier konnte nach Herzenslust und Geschmacksrichtung der Eigenbedarf für die Familie gedeckt werden.

Wesentlich attraktiver aber war es, im großen Stil zu sammeln und die Pilze in einer Sammelstelle im Dorf für gutes Geld abzugeben. Das war auch für uns Kinder eine gewinnbringende Beschäftigung an den Wochenenden oder in der Ferienzeit. Als Geheimtipp für eine lohnende Ausbeute galt, je tiefer der Sammler in den Wald vordrang, umso sicherer durfte er ein von anderen Pilzsammlern unberührtes Territorium erwarten.

Natürlich empfanden auch wir Kinder Pilzmahlzeiten, und noch dazu aus eigener Ernte, als Delikatesse. Einmal radelten wir zu dritt mit unseren Fahrrädern über die halb zugewachsenen, aber weitgehend noch benutzbaren ehemaligen Werkstraßen und sandigen Trampelpfade. Und just an diesem Tag erwischte es uns ziemlich heftig.

Unser Trio bestand aus Udo Dürr, einem Freund aus der Nachbarschaft, einem weiteren Jungen , der mit seinen Eltern erst vor Kurzem in die Seesiedlung gezogen war, und mir. Der Vater unseres Dritten im Bunde war Offizier der NVA. Oft blieben diese Familien nur ein oder zwei Jahre in Klietz und zogen dann weiter, weil der Vater an einen anderen Standort versetzt wurde. Deshalb kann ich mich auch nicht an den Namen unseres Freundes erinnern.

Diese Kinder hatten es schwer, neue Freunde zu finden. Auch gab es feste Cliquen, die nicht so schnell einen Neuen aufnahmen. Ich weiß nur, dass er froh war, schnell Anschluss gefunden zu haben und mit uns Pilze sammeln durfte.

Wir empfanden an diesem Tag den Wald als eine Oase der Ruhe, die lediglich durch das Zwitschern der Vögel und das Klappern unserer Schutzbleche akustisch angereichert wurde. Irgendwo, weit weg vom Dorf, versteckten wir unsere Räder. Danach suchten wir den Waldboden nach Pilzen ab. Abgesehen vom Konzert der Vögel geschah das in erholsamer Ruhe, die durch gelegentliche Kontrollrufe wie „Wo seid ihr?“ unterbrochen wurde, damit wir uns in dem weiten Gelände nicht verloren. Immer wieder rief der eine oder andere von uns, dass er auf eine besonders ergiebige Stelle oder ein besonders großes Pilzexemplar gestoßen war. Weil wir uns aber auch viel zu erzählen hatten, blieben wir meist dicht beieinander.

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Ein sowjetischer T34 – diese Panzer fuhren in Klietz

Pilze suchen auf dem Militärgelände ist nicht ungefährlich

Nach einiger Zeit vernahmen wir aus der Ferne Motorgeräusche von Fahrzeugkolonnen, die sich den Weg zum Schießplatz bahnten. Wir ließen uns davon nicht stören. Auch nicht durch das aus dieser Richtung einsetzende Aufheulen von Panzermotoren und weit entferntem Geschützdonner. Dabei handelte es sich für uns um eine normale, nahezu alltägliche Geräuschkulisse.

Plötzlich hörten wir drei nicht allzu laute Schüsse, denen jeweils kurz ein dumpfer Knall folgte. Ich kannte diese Geräusche. Sie entstanden, wenn Leuchtpatronen abgefeuert wurden. Der erste Knall kam vom Abschuss, der zweite, etwas dumpfere, von der Explosion des Leuchtkörpers am Himmel. Die drei Schüsse lösten etwas aus, was uns schlagartig die ungetrübte Freude am Pilze suchen nahm.

Offensichtlich signalisierten die Leuchtkugeln den Beginn des Angriffs einer Panzereinheit. Wir standen wie versteinert und schauten uns an. Die Fahrgeräusche erschienen mir noch weit genug weg. Ich konnte die Entfernung zwar nicht schätzen, aber bis zum freien Gelände, in dem sich die Panzer üblicherweise bewegten, mussten es noch einige hundert Meter gewesen sein, da wir durch den Wald die Schießbahn nicht sehen konnten. Keine große Gefahr, dachte ich und wollte diese Erkenntnis mit gespielter Gelassenheit meinen beiden Begleitern vermitteln, als die ersten Schüsse von den Panzern abgefeuert wurden. Sekunden später baute sich ein pfeifendes, rasch lauter werdendes Geräusch in unsere Richtung auf, und eine Granate schlug unweit in den Wald ein. Nach ihrer Detonation hinterließ sie ein Knacken und Knistern im Geäst der Bäume, während es uns kalt den Rücken hinunterlief.

Andere Granaten schlugen deutlich weiter von uns entfernt ein, aber diese eine hatte sich gerade unser Waldstück ausgesucht. Das hätte ins Auge gehen können!

Was dann geschah, bedurfte keiner Worte. Wir drei rannten wie von der Tarantel gestochen die gut 300 bis 400 Meter zu unseren Rädern zurück, immer bemüht, aus unseren Eimern und Körben so wenig wie möglich Pilze zu verlieren.

Nur weg von hier! Wir schwangen uns auf unsere Fahrräder und fuhren in einem für neun- bis elfjährige Jungs beachtlichem Tempo in Richtung Siedlung. Am Waldrand angekommen, verschnauften wir. Trotz des Spurts, zunächst zu Fuß und dann per Rad, strahlte die Gesichtsfarbe unseres neuen Freundes eine gewisse Leichenblässe aus. Im Nachhinein bin ich sicher: Udo und mir ging es nicht anders.

Langsam kehrte unser Selbstbewusstsein zurück . Es machte sich eine Mischung zwischen einem Rest von Angst und freudiger Erregung über ein bravourös bestandenes Abenteuer breit. Wir konnten wieder lachen – ein deutliches Zeichen von Erleichterung.

Die Pilzausbeute war allerdings an diesem Tag nicht allzu groß. Mein Eimer war noch ziemlich voll, aber aus dem Spankorb fehlte die Hälfte. Ähnlich sah es bei Udo aus. Und unser neuer Freund war völlig leer ausgegangen. Er hatte bei unserer Flucht zu den Fahrrädern seinen Korb weggeworfen. Er erhielt von uns einen Korb mit Pilzen. Nicht nur aus Solidarität. Dahinter steckte vor allem Kalkül. Wir mussten vermeiden, dass zu Hause Fragen auftauchten, die uns erheblichen Ärger eingebracht hätten. Unsere Eltern erfuhren aus verständlichen Gründen nie etwas von diesem gefährlichen Abenteuer.