Auf dem Schönhauser Damm fanden die Brigidauer eine neue Heimat

aufgeschrieben von Alma Herms | geboren 1930 | Russichlehrerin

Als ich gefragt wurde, ob ich etwas über das Leben der 31 Brigidauer Familien auf dem Schönhauser Damm schreiben könnte, wurden viele Erinnerungen in mir wach. 31 Familien fanden hier – auf dem Schönhauser Damm – eine neue Heimat. Das klingt jetzt ganz leicht, aber so viele Entbehrungen und schwierige Situationen waren zu bewältigen, ehe unsere Familien hier zur Ruhe kamen. Galizien – Warthegau – Schönhauser Damm.
Wo liegt eigentlich Galizien? Das Galizien, aus dem wir stammen, ist eine historische Landschaft auf dem nördlichen Abhang und im Vorland der Karpaten.Es ist also nicht zu verwechseln mit Galicien – man beachte das „C“ – der historischen Landschaft in NW-Spanien.
Also zurück zu Galizien, von dem hier u.a. berichtet werden soll. Unter Joseph II. 741-1790 wurden 5.000 deutsche Familien, vorwiegend Protestanten aus der Pfalz, im ukrainischen Ost-Galizien angesiedelt. Die Ansiedlung sollte der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes dienen. Bis 1939/40 blieben diese Siedlungen als Sprachinseln bestehen. Joseph II. war der Sohn Kaiser Franz‘ I. und Maria Theresias, 1764 wurde er zum römisch-deutschen König gewählt. So viel zum historischen Geschehen.
Wichtig für die Menschen, die als pfälzische Nachfahren bis 1939/40 in diesen Gebieten lebten, ist die neuere Geschichte.1945 musste meine Familie, ich war damals 10 Jahre alt, aus dem Warthegau, wohin sie 1940 umgesiedelt worden war, fliehen. Nach der Flucht und nach dem Kriegsende verbrachten Familien ein Jahr im Südharz. Auch darüber gibt es erzählenswerte Ereignisse und Erlebnisse, aber unser Zuhause fanden wir erst hier – östlich der Elbe.
Sicher war und ist nicht alles paradiesisch, aber wir alle erinnern uns gern, ist doch nach dem Dichter Jean Paul „die Erinnerung das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann.“Ich kam als 15-jährige hierher und habe nicht alles so genau registriert. Aber mein Mann hat mir dabei geholfen, die Erinnerungen lebendig werden zu lassen. Als wir Ende März 1946 auf den Damm kamen, waren – so glaube ich – alle enttäuscht, denn nach den Schilderungen unserer Vorreiter hatten wir uns ein besseres Bild von unserem neuen Zuhause gemacht, aber Enttäuschungen waren wir ja gewohnt. Nun standen wir auf dem Gutshof und keiner hat uns willkommen geheißen. Nur mein späterer Mann hat uns vom Wagen geholfen. Er gehörte zu den drei Familien, die schon gesiedelt hatten. Auch ein paar russische Soldaten standen da und werden wohl gedacht haben, was die „Nemze“ (Deutschen) hier wollen. Unsere Väter verteilten die leer stehenden Häuser, in denen wir nichts vorfanden, an die einzelnen Familien.
Als sie am nächsten Tag in Schönhausen wegen Mobiliars nachfragten, wurden sie wie Bettler abgefertigt. Es ging aber nicht nur um Einrichtungsgegenstände. Essen muss der Mensch schließlich auch. Die am meisten gestellte Frage der Frauen lautete: „Was hosch du heit gekocht?“ Aus „Pappelche“, einer Art Butterblume, konnte man einen wirklich guten Salat machen! Aber frieren mussten wir nicht, obwohl die Winter sehr kalt waren. Holz wurde aus dem Wald geholt.

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Galizien – Umsiedlung im Jahr 1940
Galizeien Wappen

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Galizien – Umsiedlung im Jahr 1940

Galizien – Wappen

Meine Eltern hatten die Aufgabe, für die Russen Schweine zu füttern. Als ein russischer Kommandant aus Berlin kam und die dreckigen Schweine sah und meinte, so könne man die doch nicht schlachten, riet meine Mutter ihm, Seife zu bringen. Für die Schweine! Von dieser Seife hatten nun alle Hausfrauen etwas. Der Kommandant hatte auch angeordnet, Grünes für die Schweine zu suchen. Meine Mutter forderte den Kommandanten auf, Erbsen und Mais für die Schweine bringen zu lassen. Sie fütterte aber Grünes und so blieb von Erbsen und Mais für unsere Familien wieder etwas übrig.
Auch der Akt des Schlachtens war sehr ertragreich für die Familien, da die dicke Matka, die Frau des Kommandanten, mit vielem, was am Schwein so dran war, nichts anzufangen wusste. Als im Herbst die Russen samt den Kühen abzogen, war die „fette“ Zeit für uns vorbei. Die jungen Männer, u.a. auch mein späterer Mann, mussten die Kühe bis vor Genthin treiben. Sie wussten nicht, wohin es gehen sollte und machten sich deshalb bei Nacht und Nebel auf den Heimweg. Wer weiß, wo sie sonst gelandet wären – sicher in Sibirien. Jetzt bekamen alle 31 Familien eine Kuh. Jede Familie hatte sie einen Tag im Futter und konnte sie melken. So wurde jeder – bei allen Einschränkungen – satt.
Die Lust zum Feiern war uns jungen Menschen aber nicht vergangen. Ich glaube, mit so viel Enthusiasmus wie damals wird heute nicht mehr gefeiert. Es herrschte immer eine tolle Stimmung, auch ohne Alkohol. Das änderte sich erst später, als wir alle im Fach „Schnapsbrennen“ Spezialisten wurden. Die Möbelbeschaffung“ erstreckte sich jetzt bis nach Klietz in die ehemalige Munitionsfabrik. Eisenbetten und mit Zink ausgeschlagene Kisten erfüllten ihren Zweck. So wurden z.B. die Kisten übereinander gestellt, ein Vorhang kam davor – fertig war der Küchenschrank. Als Walter und ich 1951 heirateten, stand so ein Schrank noch bei uns in der Küche. So kam das Jahr 1947 und im Frühjahr die Feldbestellung. Um die Maschinen gab es ein Gerangel, jeder wollte der Erste sein, und wer am lautesten schreien konnte, schaffte es auch.
Die Wohnverhältnisse hatten sich in der Zwischenzeit auch verbessert. Unserer Familie wurde das heutige Dorfgemeinschaftshaus zugeteilt. Mein Vater hatte die geniale Idee, ein Gasthaus einzurichten und 1947 bekam er die Konzession.
Im Oktober desselben Jahres wurde hier auch die erste Brigidauer Kerb (Kirmes) gefeiert. Wir jungen Leute gingen damals zum Singen nach Schönhausen, was uns allen viel Spaß bereitete.
Mit den Schönhauser Sängern traten wir gemeinsam auf, sangen aber auch die Lieder unserer „alten“ Heimat, u.a. „Ich bin ein frohes Pfälzer Blut“ oder „Mer san von dort her, wo mer Krumbeere obaut“. Der Applaus hat uns sehr stolz gemacht. Das Leben normalisierte sich – es wurde geheiratet und Kinder wurden geboren. Unsere Kinder können den Damm als ihre Heimat bezeichnen, aber für uns, so glaube ich, ist und bleibt Brigidau in Galizien unsere Heimat.
Heimat ist der Duft der Erinnerung. Da haben wir unsere Kindheit verbracht. Unsere Eltern haben mit viel Fleiß und Mühe ihre Wirtschaften aufgebaut. Da sind unsere Kindheitsträume. Unsere Kinder besuchten hier den Kindergarten und die erste Klasse. Als alle Siedlungen kollektiviert wurden, haben unsere jungen Menschen das Weite gesucht, haben studiert und sind nicht wieder zurück gekommen. Unsere Kinder haben andere Eindrücke und Erlebnisse, die ihr Leben prägen.

Ich kann mir vorstellen, dass sie aber in späteren Jahren sich der Erzählungen ihrer Eltern gern erinnern, daran, was die „Alten“ erlebt haben. Bei diesem und jenem könnte der Wunsch wach werden, die Heimat der Vorfahren kennen zu lernen. Und da kann es nicht schaden, einige Sitten und Gebräuche zu kennen. Deshalb möchte ich aus meiner Erinnerung einige aufführen. Manches war in Vergessenheit geraten, aber wir haben uns erinnert und pflegten sie auch auf dem Damm. Die junge Schriftstellerin Cecelia Ahern sagt: „Wo Dunkelheit herrscht, kann auch Licht sein, wo nichts als Verzweiflung bleibt, kann dennoch Hoffnung sein.“ Nach diesen Leitsätzen haben unsere Eltern wieder angefangen zu leben.

Als sie, Elisabeth und Philipp Becker, 1947 hier in dem heutigen Dorfgemeinschaftshaus ihre Gaststätte eröffneten, war es der Treffpunkt für alle Veranstaltungen und Feste der Dorfbewohner. Es trafen sich die Männer nach getaner Arbeit auf ein Glas Bier und zum Kartenspielen wie in Brigidau. Je später es am Abend wurde, desto lauter wurden die Pfälzer Krischer. Dass sie immer so spät nach Hause kamen, ärgerte ihre jungen Frauen, denn unsere Eltern waren damals so um die 35 bis 45 Jahre. Eines Abends kamen zwei mutige Frauen und wollten ihre Männer aus dem Wirtshaus holen. Die ließen sich aber in ihrem Tun nicht stören. Unser Vater sagte nur: „Ehr Weibsleut, gewen doch Ruh, der Herrgott hot doch de Schnaps und des Bier net vor Ochs und Kuh gemach.“ Nun kamen auch die Frauen am Sonntagnachmittag mit ihren Kindern zum Krache (Brause) trinken, und fanden es gut, vereint untereinander zu sein.

Das Geld, das ihre Männer abends verspielt hatten, holten sie sich am nächsten Tag durch Handeln mit den Russen auf dem nahe gelegenen Flugplatz wieder. Mit der Sprache hatten sie ja keine Schwierigkeiten, und das Kutteln und Schachern hatten sie ja schon als Kinder von ihren Vätern in Brigidau gelernt. Bis 1956, als unsere Eltern die Siedlung und die Gaststätte aufgaben, wurde jedes Jahr die Kerb gefeiert. In Brigidau dauerte sie drei Tage, denn aus allen Ecken Galiziens kamen die jungen Leute. Sie haben meist bei Freunden oder Verwandten gewohnt. Zu dieser Zeit hatten die Frauen alle Hände voll mit Backen und Kochen zu tun. Wenn jemand in der Kerbzeit zu unserer Mutter wollte, dann sagte unser Vater immer: „Mai Lische hot ke Zeit, sie bringt die Hän net me aus dem Deg.“ Hier auf dem Damm wurde die Kerb nur einen Tag gefeiert. Es war aber immer sehr lustig. Trafen doch alle, inzwischen schon befreundeten, Leute zusammen. Wenn nicht unsere Musiker spielten, Schramms Vater und sein Sohn Edi, Bachmanns Hans und seine Freundin, so besorgte Vater eine Kapelle aus dem Nachbardorf.
Auf den Damm kamen sie sehr gern, denn da gab es immer ein gutes Essen, das unsere Mutter für die Musiker zubereitete.
Wie heißt es doch in dem alten Volkslied: „Im Märzen der Bauer“ in der zweiten Strophe: „Er mäht das Getreide, dann drischt er es aus, im Winter da gibt es manch fröhlichen Schmaus!“ Der fröhliche Schmaus war dann im Spätherbst – das Schlachten unserer fetten Schweine. Ein Schwein wurde normal geschlachtet, das andere „schwarz“. Auch hier waren wir auf keine fremden Metzger angewiesen, das waren unsere Brigidauer Leit! Wieder waren es Vater Schramm, Hennings Vater und Heinrich Schweizer, Reinhards Vater. Es war Brauch, einem jungen Mädchen „ein Werschtchen ohmesse“, damit die Wurst gelingt.
Ich höre noch den Heinrich rufen: „Mädche, kumm, dass ich der e Werschtchen ohmesse kann.“ Abends wurde dann zur Metzelsupp geladen. Zur Begrüßung bekamen die Männer gleich einen selbst gebrannten Schnaps. Die Frauen kamen mit sauberen Schürzen, denn sie halfen, wenn das Essen abgetragen war, noch ein bisschen in der Küche. Der Metzger brauchte ja sein Handwerkszeug gleich wieder am nächsten Tag, denn das Schlachten ging die Reihe rum. Am folgenden Tag wurde dann in die Nachbarschaft ein Krikelchen, das Mantkes Vater für jeden Haushalt angefertigt hatte, und Metzelsupp mit einem kleinen Würstchen, gebracht. So war es auch in Brigidau gewesen, wir Mädchen hatten immer die Metzelsupp in die Nachbarschaft gebracht.


Eine schöne alte Sitte war auch das Neujahr anwünschen. Wir jungen Leute haben meist in kleinen Gruppen Silvester gefeiert. Nachdem wir uns nach Mitternacht so richtig gestärkt hatten, gingen wir zu den Verwandten „Neijohr ohwische!“ Angefangen haben wir bei Onkel Philip. Es war alles dunkel, aber nach dem ersten Klopfen stand Onkel Philip in weißer Unterhose und Hemd in der Tür und hat uns empfangen. Auf dem Tisch standen schon der Schnaps und Zubeiß (das waren meist Huwelspe, Hobelspäne in Fett gebacken). Die Stube war so klein, denn da standen auch noch zwei Betten drin, aber wir haben alle rein gepasst. Es wurde alles Mögliche gewünscht und sich geherzt und geküsst.
Ich sehe noch Tante Linchen und Tante Therese in langen weißen Leinennachthemden mit Spitzen, sie waren so weit und groß wie ein Kinderzelt. Bei Onkel Johann und Theres Wesje wurde wieder auf die Gesundheit und das Wohlergehen angestoßen. Der Schnaps war für die Burschen, der Likör für uns Mädchen – der schmeckte immer besser. Wir haben aber nie erlebt, dass einer betrunken war. Sicher hatten wir alle am nächsten Tag einen schweren Kopf, aber das gehörte dazu. Nun blieb nur noch das Anwünschen bei Onkel Wilhelm und Tante Grete. Da waren wir ganz aus dem Häuschen, denn Onkel Wilhelm übertraf mit seinem trockenen Humor seine beiden Brüder. An solche Begegnungen dachte man noch lange. Tante Grete hatte immer so gute Plätzchen. Die backen auch nur die Brigidauer Frauen. Es gab auch Kanapki, ich glaube, das Wort kommt aus dem Polnischen. Heute sagt man Kanapee. So wie ich mich erinnere, war das Zuhause in Brigidau eine Liege, auf der man sich ausruhen konnte… Ein alter Brauch war auch, dass sich die Frauen im Winter gegenseitig besuchten. Sie sind „moje gan“, wie in Brigidau. Die Männer waren im Wirtshaus beim Kartenspielen gut aufgehoben, die Frauen konnten sich in Ruhe das Neuste erzählen und dabei noch stopfen oder stricken. Manche haben auch noch sehr schön gestickt, so wie in Brigidau, wo doch ein jedes heiratsfähige Mädchen seine Aussteuer sticken musste. Ich kann mich noch gut erinnern, dass Lindes und Trautchens Mutter sehr gerne zu unserer Mutter gekommen ist und ihr geholfen hat. Dass wir hier auf dem Damm wie eine kleine Familie waren, zeigte sich, wenn Hochzeiten vorbereitet wurden. Jede Frau brachte noch Geschirr, denn es fehlte ja an allem, um eine richtige Feier zu machen. Mit guten Ratschlägen standen sie den Brauteltern zur Seite.
Nun möchte ich noch auf die vertraute Anrede für ältere Leute kommen. In Brigidau haben wir Kinder zu Fremden immer Onkel und Tante gesagt. Auf dem Damm waren wir ja schon junge Leute, Borsch un Mensche, von 15 Jahren und älter. Da haben wir die Älteren, die wir besonders verehrt haben mit „Peder Vetter und Bretta Got“ bzw. „Wesje“ angesprochen. Oder wir haben nur „Schweizers Vatter und Schweizers Mutter“ gesagt. In manchen Familien wurde sogar noch die Anrede in der dritten Person Plural verwandt. „Ehr kennen jo mol fro,“ oder „ehr kennen jo mol kumme.“ „Sie können ja mal fragen,“ oder „sie können ja mal kommen.“ Diese Anreden waren liebe Gesten, die zu Herzen gingen.
Zum Schluss möchte ich doch noch unsere Pfälzer Köche erwähnen. Wenn es auch eine arme Zeit war, so haben unsere Mütter doch immer versucht, etwas Gutes zu kochen. Es waren echte Pfälzer Gerichte, z.B. die Milchriwwlsupp, Schneebällcher, Appelpannkuchen, Buwespitzcher. Ein Gericht, das die Männer verdrießlich machte, war die sauri Grummberebrie. Unser Jüngster hat mir aus dem Antiquariat zwei original handgeschriebene Pfälzer Kochbücher mitgebracht, da blätter ich sehr gern drin, denn es erinnert mich an Mutters Küche. Unsere liebe Mutter hat uns auch ein kleines Büchlein hinterlassen, in dem manch knifflige Rezepte drin sind.
Unsere Brigidauer auf dem Damm haben nicht nur die Festtraditionen aufleben lassen, nein, sie haben auch an das Praktische gedacht. Da ja keine Landwirtschaftsgebäude vorhanden waren, um das Getreide und Heu einzulagern, haben sie Oboris gebaut: Vier Stämme im Quadrat, Dach drauf, mit Stroh oder Blech gedeckt, fertig war die Scheune. Im Winter hat man dann mit dem Heuroper Heu und Stroh für das Vieh geropft. Meine Freundin, sie ist 10 Jahre jünger als ich, war als Schülerin der vierten Klasse auf einem Ausflug zum Damm. Da hätten alle Kinder gestaunt über diese Oboris. Der Lehrer konnte ihnen auf ihre Fragen weder den Namen noch eine Erklärung für dieses Gebäude geben. Später hatte er sich schlau gemacht und die Frage der Schüler doch noch beantworten können. Wenn ich so viele pfälzische Redewendungen mit eingefügt habe, dann deshalb, weil sich manches auf Hochdeutsch befremdlich angehört hätte.
Wir sind auf dem Damm heimisch geworden, vergessen unsere Brigidauer Heimat aber nie!

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Quelle: Das Wissen der Region Band 4